Die gröβten Herausforderungen, denen der belgische Vorsitz der Europäischen Union in der zweiten Hälfte 2010 gegenübersteht, betreffen die Wirtschaftsagenda der Europäischen Union. Die Bankenkrise, die Ende 2008 ausbrach, führte zu einer Wirtschaftskrise, die in allen Mitgliedstaaten heftig zugeschlagen hat. In den vergangenen Monaten wurde klar, dass einige Ursachen der Krise europaweit in Angriff genommen werden sollten. Die Regulierung des Finanzsektors ist ein Beispiel dafür. Die Europäische Kommission legte mehrere Vorschläge auf den Tisch, über die die Mitgliedstaaten untereinander und mit dem Europäischen Parlament intensiv verhandelt haben.
Auch wurde die Notwendigkeit struktureller Maβnahmen klar, die die europäische Wirtschaft in ihrer Ganzheit stärken können. Die Lissabon-Strategie, mit der die Europäische Union bis 2010 zur weltweit stärksten Wirtschaft werden sollte, ist gescheitert. Ein neuer Anlauf ist somit nötig. Der Europäische Rat genehmigte gerade vor dem Anfang des belgischen Vorsitzes die „Europa 2020“-Strategie, die in der zweiten Jahreshälfte konkreter gestaltet werden soll.
Die Debatten über eine „Wirtschaftsregierung“ gewannen aber erst an Kraft, als Anfang 2010 die griechische Schuldenkrise begann. Schon bald wurde für mehr europäische Aufsicht über die nationalen Haushalte sowie für die Möglichkeit plädiert, Ländern mit einer zu geringen Haushaltsdisziplin Sanktionen aufzuerlegen. Die europäische Tagesordnung wird daher in der zweiten Hälfte 2010 vor allem durch die Inangriffnahme der Wirtschaftsprobleme beherrscht.
Eine Währungsunion, aber keine Wirtschaftsregierung
Schon am Anfang der neunziger Jahre, als durch den Maastrichter Vertrag beschlossen wurde, eine Einheitswährung zu schaffen, betonten manche Wirtschaftler direkt, dass eine Währungsunion auch eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit erfordere.
Länder, die in die Eurozone eintreten, müssen über gesunde Staatsfinanzen verfügen. Schließlich müssen sie die Kriterien von Maastricht einhalten, die allerdings bei der Einführung des Euro sehr flexibel interpretiert wurden. Dennoch lies sich schon bald feststellen, dass die Wirtschaftspolitik der Länder in der Eurozone sehr verschieden war. Die Währungspolitik wurde zentral, von der Europäischen Zentralbank, gesteuert. Die Wirtschaftspolitik blieb aber zersplittert. Länder in der Eurozone legten in ihrer Steuer- und Beschäftigungspolitik oder ihren Lohnabkommen ganz andere Akzente. Manche Länder entwickelten eine starke positive Handelsbilanz, während andere weniger exportorientiert waren.
Zwar treffen sich die Finanzminister der Eurozone-Länder regelmäβig unter der Leitung von Jean-Claude Juncker in der Eurogruppe, dabei handelt sich aber vielmehr um informelle Tagungen, die nicht im Entferntesten etwas mit Wirtschaftsregierung zu tun haben. Dennoch gibt es eine Reihe europäischer Vereinbarungen. Die wichtigste ist nach wie vor der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er schreibt vor, dass das Haushaltsdefizit eines Mitgliedstaats nicht mehr als 3 Prozent betragen darf. Gegen Länder in der Eurozone, die diesen Prozentsatz überschreiten, sind Sanktionen vorgesehen. Die Auferlegung der Sanktionen erfordert aber eine politische Entscheidung: Mitgliedstaaten müssen explizit über Geldstrafen für andere Mitgliedstaaten abstimmen. Als die gröβten Mitgliedstaaten der Eurogruppe, Frankreich und Deutschland, ab 2003 in finanzielle Schwierigkeiten kamen und während aufeinanderfolgender Jahre ein Haushaltsdefizit über 3 Prozent aufzeigten, wurde der Sanktionsmechanismus de facto ausgeschaltet. Kein einziges Land wurde je wegen Verletzung des Pakts bestraft.
Länder sind darüber hinaus verpflichtet, regelmäβig Grundzüge der Wirtschaftspolitik und Stabilitäts- und Konvergenzprogramme zu erarbeiten, in denen sie angeben, wie sie europäische Ziele, beispielsweise im Beschäftigungsbereich, verwirklichen werden. Diese Unterlagen werden der Europäischen Kommission und den anderen Mitgliedstaaten vorgelegt. Jedoch führt diese Überprüfung durch Experten höchstens zu nicht bindenden und somit unverbindlichen Empfehlungen.
Erst im Jahre 2010 landete das Thema „Wirtschaftsregierung“ ganz oben auf der europäischen Agenda, wofür – wie schon gesagt – die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie namentlich die Schuldenprobleme Griechenlands verantwortlich sind. Es hat aber auch etwas mit dem Vertrag von Lissabon zu tun, der Ende 2009 in Kraft trat. Ein neuer Artikel 136 beinhaltet Maβnahmen, die spezifisch in Hinblick auf Länder in der Eurozone ergriffen werden können, um die Koordinierung und Beaufsichtigung ihrer Haushaltsdisziplin zu verstärken und wirtschaftspolitische Richtlinien darzulegen.
Die griechische Schuldenkrise beherrscht die Tagesordnung 2010
Im Januar 2010 brach die griechische Schuldenkrise aus. Es stellte sich heraus, dass das Haushaltsdefizit mit 13 Prozent zweimal höher war als zu Anfang angenommen wurde. Die groβen Ratingagenturen senkten ihre Ratings für Griechenland. Die Zinsen, die das Land auf Darlehen bezahlen musste, stiegen spektakulär an. Schon bald begann auch die Spekulation gegen den Euro, der an Wert verlor.
Am 11. Februar 2010 veranstaltete Herman Van Rompuy, der neue Vorsitzende des Europäischen Rats, in der Brüsseler Bibliothek Solvay seinen ersten Gipfel. Die Staats- und Regierungsleiter verabschiedeten eine Erklärung, aus der sich schlieβen lieβ, dass sie Griechenland nicht seinem Schicksal überlassen würden. Zu konkreten Vereinbarungen über eine Rettungsaktion kam es aber nicht.
Griechenland wurde allerdings schwer unter Druck gesetzt, zur Überwindung der Schuldenkrise eigene Pläne zu erstellen. In den folgenden Wochen würden die Griechen drastische Sparpläne vorlegen, welche zu heftigen Protesten unter der griechischen Bevölkerung führten. Die griechischen Behörden aber hielten durch: Die Mehrwertsteuer wurde erhöht, die Löhne sanken und die Verwaltung machte große personelle Einschnitte.
Andere Mitgliedstaaten, namentlich Deutschland, kritisierten Griechenland heftig: Die verschwenderischen Griechen hätten jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt und ihre Statistiken gefälscht und es sei wohl besser gewesen, sie nie zur Eurozone zuzulassen. Deutschland berief sich auf die europäischen Verträge für die Behauptung, dass ein Auslösen Griechenlands im Grunde gar nicht möglich sei. Die Unruhe auf den Finanzmärkten nahm wieder zu, da den vagen Hilfsversprechen wurde immer weniger Glauben beigemessen. Es wurde für Griechenland immer schwieriger, Kapital zu erschlieβen.
Am 17. März erklärte Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel zudem, es solle einen Mechanismus geben, um Länder mit unzureichender Haushaltsdisziplin aus der Eurozone auszuschließen. So kurz vor wichtigen Landtagswahlen wollte sie nicht den Eindruck erwecken, dass die Deutschen für die griechischen Schulden herhalten müssten.
Eine Woche später, am 25. März, trafen sich die europäischen Staatschefs zum Frühlingsgipfel. Im Bestreben, die Märkte zu beruhigen, wurde ein Rettungsplan für Griechenland vereinbart. Die Einzelheiten blieben aber erneut vage, und der Rettungsplan könnte erst nach dem ausdrücklichen Einverständnis aller Mitgliedstaaten ausgeführt werden. Die Finanzmärkte waren nicht beeindruckt und es blieb für Griechenland sehr schwierig, Kapital zu bekommen. Inzwischen gingen Gerüchte um, dass Länder wie Spanien, Portugal und Irland mit ähnlichen Problemen kämpften.
Während desselben Gipfels vom 25. März wurde vereinbart, eine Arbeitsgruppe über Wirtschaftsregierung unter der Leitung von Herman Van Rompuy einzurichten. Die Gruppe würde sich vorwiegend aus Finanzministern zusammensetzen und soll Vorschläge erarbeiten, um künftige Schuldenkrisen zu vermeiden.
Im April und Mai, als klar wurde, dass Griechenland die Schuldenkrise unmöglich allein überwinden konnte, wurden dann doch konkrete Vereinbarungen über ein Hilfepaket getroffen. Zunächst war von einem Betrag von 30 Milliarden Euro die Rede, den die anderen Mitgliedstaaten Griechenland zu günstigen Bedingungen leihen würden. Schon bald wurden daraus 80 Milliarden, aber auch dieser Betrag musste erhöht werden. Letzten Endes wurde ein Fonds für finanzielle Stabilität über 440 Milliarden Euro ins Leben gerufen, mit dem notleidende Staatshaushalte unterstützt werden können. Wenn nötig können also auch andere Länder diesen Rettungsfonds anrufen. Der IWF war inzwischen übrigens ebenfalls in Aktion getreten und machte Geldmittel verfügbar. Der europäische Rettungsfonds erhielt dabei von den wichtigsten Agenturen das bestmögliche Rating (triple A).
Ob die akuten Probleme Griechenlands vorbei sind, ist noch sehr fraglich. Manche Wirtschaftler beharren darauf, dass für das Land in absehbarer Zeit eine drastische Umschuldung notwendig sein wird. Unklar ist auch, ob andere Länder auf den Notfonds zurückgreifen werden müssen. Ende September gab es Gerüchte, dass auch Irland im Begriff war, um Unterstützung zu bitten.
Herausforderungen an mehreren Fronten
Die Herausforderungen auf Wirtschafts- und Haushaltsebene erfordern eine Inangriffnahme auf mehreren Fronten. In erster Linie sollen Maβnahmen zur strukturellen Stärkung der europäischen Wirtschaft ergriffen werden, wie in der „Europa 2020“-Strategie vereinbart. Darüber hinaus ist eine Gesetzgebung speziell zur stärkeren Regulierung des Finanzsektors notwendig. Abschlieβend ist noch die Frage der Haushaltsdisziplin: Wie lässt sich vermeiden, dass in Zukunft noch Länder ihr Griechenland-Szenario erleben? Für ein Gelingen der Belgischen Präsidentschaft ist es wichtig, dass in jedem dieser drei Bereiche Fortschritte gemacht werden.
Strukturelle Maβnahmen: Europa 2020
Im Jahr 2000 machte der Europäische Rat auf dem Lissabonner Gipfel den Plan bekannt, bis 2010 die weltweit dynamischste und wettbewerbsfähigste Kenntniswirtschaft zu werden. Dieser Lissabon-Prozess ist nicht auf ganzer Linie gelungen. In der ersten Hälfte 2010 entschieden sich die Staats- und Regierungschefs daher für eine neue Initiative, nochmals um ein nachhaltiges und ausgeglichenes Wachstum zu schaffen. Voraussetzungen dabei sind eine höhere Beschäftigungsrate, mehr Innovation, eine wichtige Rolle für Unterricht, ehrgeizige Klimaverbindlichkeiten und eine Verstärkung der sozialen Eingliederung.
Es wurde eine beschränkte Zahl konkreter Ziele gesetzt, die bis 2020 verwirklicht werden sollen: (1) Die Arbeitsbeteiligung in der Altersgruppe von 20-64 Jahren soll auf 75 Prozent ansteigen; (2) Investitionen in Forschung und Entwicklung müssen 3 Prozent des BIP betragen; (3) der Ausstoβ von Treibhausgasen soll im Vergleich zu 1990 um 20 Prozent (wenn möglich 30 Prozent) sinken, die Energieeffizienz um 20 Prozent zunehmen und 20 Prozent der Energie soll aus Erneuerbaren kommen; (4) der Anteil der Schulabbrüche darf nicht mehr als 10 Prozent betragen und (5) die Zahl der Europäer unter der Armutsschwelle soll um 20 Millionen abnehmen.
Es war nicht einfach, eine Einigung über diese mehr oder weiniger quantifizierbaren noch vor dem Sommer zu erzielen. Vor allem die Indikatoren, die messen sollen, ob die Armut tatsächlich abnimmt, waren Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Gemäβ dem endgültigen Kompromiss können Mitgliedstaaten selbst aus einer Anzahl Indikatoren wählen, die sie anwenden. Weil 2010 das Europäische Jahr des Kampfes gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist, wäre es ja ein besonders schlechtes Signal gewesen, wenn hierüber keine Einigung erzielt worden wäre. Dennoch sind viele Organisationen enttäuscht über die Beliebigkeit der Indikatoren.
In der zweiten Hälfte von 2010, unter dem belgischen Vorsitz, soll diese Europa 2020-Strategie weiter konkret gestaltet werden. Bis Dezember sollen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Ziele formulieren und erklären, wie sie diese erreichen wollen. Das wird viel Beratung mit der Kommission erfordern, aber selbstverständlich wird darüber auch in den beteiligten Ratsgremien debattiert werden.
Es ist die Absicht, dass die einzelnen Länder eigene Akzente setzen können und eine eigene Linie verfolgen dürfen, ohne dass die allgemeinen Ziele gefährdet werden. Der Gipfel im Dezember wird weitgehend im Zeichen der „Europa 2020“-Strategie stehen. Mehr spezifisch hat der Europäische Rat beschlossen, namentlich den Aspekt „Forschung und Innovation“ zu betonen. Die belgische Präsidentschaft muss dafür sorgen, dass diese Debatte ordentlich vorbereitet wird.
Eine der wichtigen Fragen in dieser Debatte bezieht sich auf die Sanktionen: Soll es möglich sein, Länder zu bestrafen, wenn sie sich nicht hinreichend anstrengen, um die „2020“-Ziele zu verwirklichen? Es wird allgemein angenommen, dass die ziemlich freibleibende Natur der Lissabon-Strategie für ihr Scheitern mitverantwortlich ist. Zugleich erweist es sich für mehrere Mitgliedstaaten als schwer annehmbar, dass die Nichteinhaltung der Vereinbarungen Sanktionen herbeiführen kann.
Zu den strukturellen Maβnahmen, die zur Verbesserung des Wirtschaftsklimas in der Europäischen Union ergriffen werden sollen, gehören auch einige konkrete Vereinbarungen, über die zurzeit verhandelt wird. Dabei kann an den Schutz des geistigen Eigentums und des europäischen Patents gedacht werden. Das sind heikle Dossiers, die sich schon längere Zeit in der Mühle der europäischen Beschlussfassung befinden. Am Anfang des Vorsitzes erklärte die belgische Regierung, sie würde alles aufbieten, um in diesen Dossiers einen Durchbruch zu erzielen.
Indirekt gibt es übrigens noch ein weiteres aktuelles Dossier in Bezug auf die strukturelle Verstärkung der europäischen Wirtschaft: die Debatte über die finanzielle Vorausschau (2014-2021). Noch während des belgischen Vorsitzes wird eine Mitteilung der Kommission mit einigen Vorschlägen zu diesem neuen Haushaltsrahmen erwartet. Diese Debatte wird vermutlich viele Monate dauern und ganz grundsätzlich geführt werden: Soll die Unterstützung der Landwirtschaft zugunsten mehr zukunftsorientierter Investitionen abgebaut werden? Wie viel haben die Mitgliedstaaten für Kohäsion und Solidarität mit ärmeren Regionen übrig?
Auch auf der Einnahmeseite gibt es viel Streit. Der zuständige Kommissar suggerierte Anfang September, die nationalen Beiträge durch eine europäische Steuer zu ersetzen. Nur wenige Länder zeigten sich begeistert, aber das Thema ist nicht länger tabu. Es wird u.a. an eine Klimasteuer oder eine Besteuerung finanzieller Transaktionen gedacht, wobei die Erträge unmittelbar dem EU-Haushalt zugute kommen. Diese Steuer und ihre Varianten wie eine Steuer auf finanzielle Aktivitäten (auf die Gewinne und Gehälter von Finanzeinrichtungen) werden eingehend betrachtet und stehen also auf der europäischen Tagesordnung. Wichtige Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland sind der Idee zugetan, finden aber nicht, dass diese Steuer in die EU-Kasse flieβen soll. Es muss auf jeden Fall auf konkrete Vorschläge gewartet werden. Am Anfang des belgischen Vorsitzes kündigte Finanzminister Didier Reynders an, er wolle bis Dezember eine Vereinbarung über solch eine Steuer, aber die Chance, dass dies auch gelingt, ist sehr gering. Es gibt aber auch skeptischere Länder wie das Vereinigte Königreich. Einige Faktoren sollen darüber hinaus auch im internationalen Kontext geprüft werden. Auch in der G20 wird darüber vollauf debattiert.
Finanzielle Regulierung
Als im Jahr 2008 amerikanische Banken in ernste Probleme gerieten, wurde in der Europäischen Union noch verkündigt, es würde hier nie so schlimm werden, weil die Regulierung hier viel strenger als in den Vereinigten Staaten sei. Der Fall von Lehman Brothers am 15. September 2008 zeigte aber, dass die Union gegen die Krise nicht immun war. Mehrere europäische Banken machten Pleite, Behörden mussten massiv intervenieren, und der Wert der Aktien sank spektakulär.
Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Jacques de Larosière veröffentlichte schon 2009 eine Reihe Vorschläge in Bezug auf eine stärkere finanzielle Beaufsichtigung. Der Finanzsektor ist weitgehend grenzüberschreitend, während die Beaufsichtigung des Sektors immer noch vor allem eine Angelegenheit der nationalen Behörden ist, die kaum Einsicht in das Gesamtpaket bekommen und selbstverständlich auch nur die nationalen Interessen berücksichtigen.
Die Europäische Kommission hatte vorgeschlagen, auf der Makroebene einen Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) und auf der Mikroebene ein Europäisches System für die Finanzaufsicht (ESFS), bestehend aus einer Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA), einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA), einzurichten.
Es waren strittige Vorschläge, weil sie zu einer beachtlichen Verringerung der Macht der traditionellen nationalen Aufsichtsbehörden führen würden. Vor allem das Vereinigte Königreich hatte Beschwerden. Die Vorschläge verwässerten und das verärgerte dann wieder das Europäische Parlament. Unter dem belgischen Vorsitz wurde vergangenen Sommer emsig nach einem Kompromiss gesucht. Am Ende gelang es, einen Vorschlag vorzulegen, den sowohl das Europäische Parlament als auch die Mitgliedstaaten annahmen. Am 22. September hat ihn das Parlament formell genehmigt, wenn auch einigermaβen zögerlich. Mit dem Ziel, die zögernden Mitgliedstaaten an Bord zu halten, war es aber notwendig, die Rolle der nationalen Aufsichtsbehörden wieder zu verstärken und den Einfluss der neuen europäischen Aufsichtsbehörden ein wenig zurückzuschrauben. Mitgliedstaaten können von den neuen Wachhunden z. B. nicht gezwungen werden, notleidenden Banken finanziell zu helfen. Es stellt sich zudem noch die Frage, ob genug Mittel und Humanressourcen bereitgestellt werden, um die neuen Aufsichtsbehörden effektiv arbeiten zu lassen. Auf jeden Fall ist abgemacht worden, alle Vereinbarungen innerhalb von drei Jahren zu evaluieren. Eine strengere Regulierung des Sektors steht deshalb nach wie vor auf der Tagesordnung. Offensichtlich werden die neuen Behörden Anfang 2011 operativ sein, und das wird als Erfolg für die belgische Präsidentschaft gesehen.
In Bezug auf die finanzielle Regulierung liegen noch zahlreiche weitere Dossiers vor. In ihrer Mitteilung „Regulierung der Finanzdienste zur Förderung eines nachhaltigen Wachstums“ stellte die Kommission gerade vor dem Anfang des belgischen Vorsitzes eine lange Liste von Initiativen vor. Viele dieser Fragen haben ihren Ursprung in internationalen Abkommen, beispielsweise über Kapital- und Liquiditätserfordernisse für Banken und über alternative Investitionsfonds (Hedgefonds, private Beteiligungsfonds). Im September machte die Kommission konkrete gesetzgebende Vorschläge zur Regulierung der Terminmärkte und der Leerverkäufe. Diese werden nicht verboten, aber es wird eine gröβere Transparenz beabsichtigt. Die Kommission hofft, dass die neuen Regeln noch 2011 oder 2012 in Kraft treten können. Es ist klar, dass die Erörterung dieser Fragen noch unter dem belgischen Vorsitz anfangen wird. Es wird aber sehr schwierig, in allen Bereichen eine Vereinbarung zu erreichen. In Anbetracht der ganz konkreten Interessen gewisser Mitgliedstaaten, in erster Linie Groβbritanniens, handelt es sich um empfindliche Themen. So laufen z. B. 40 Prozent des Welthandels auf dem Terminmarkt über die Londoner City. Europäische Vereinbarungen werden also weitreichende Folgen für das Vereinigte Königreich haben.
Haushaltsdisziplin
Die griechische Schuldenkrise veranlasste schon in der ersten Jahreshälfte zu einer Debatte über eine strengere Kontrolle der Einhaltung der europäischen Haushaltsregeln. Defizite über 3 Prozent würden nicht mehr geduldet werden.
Es ist auffällig, dass die Debatte über die Wirtschaftsregierung auf zwei Ebenen stattfindet, die in einigen Fällen offensichtlich sogar miteinander in Konkurrenz treten. Zum einen gibt es die Arbeitsgruppe von Herman Van Rompuy, von der bereits die Rede war. Sie soll im Oktober konkrete Empfehlungen vorlegen. Zum anderen versucht aber auch die Kommission durch konkrete Vorschläge die Zügel in die Hand zu nehmen.Auf jeden Fall zerfällt die Debatte in zwei Dimensionen: eine präventive und eine korrigierende.
Prävention
Die Europäische Kommission schlug bereits im Mai 2010 vor, dass die Mitgliedstaaten die gegenseitigen Haushalte beurteilen sollten (eine Art Überprüfung durch Gleichgestellte), noch bevor sie auf nationaler Ebene genehmigt würden. Über die groβen Linien dieses Prozesses haben die Leiter inzwischen eine Vereinbarung erzielt. Die Beaufsichtigung wird in der ersten Jahreshälfte während eines „europäischen Semesters“ vor sich gehen. Jeden Frühling sollen die Mitgliedstaaten Stabilitäts- und Konvergenzprogramme mit den Leitlinien ihrer Haushaltsentwürfe vorlegen. Die Kommission wird spätestens Anfang Juli „länderspezifische Empfehlungen“ vorlegen. Sie kann gegebenenfalls sogar empfehlen, die Haushaltspläne zu revidieren. Das erste „europäische Semester“ ist schon für 2011 angesetzt.
Die Kommission schlägt ebenfalls vor, andere Faktoren in Rechnung zu stellen und anhand von makroökonomischen Indikatoren wie Arbeitsproduktivität, Arbeitskosten, Beschäftigungsrate, Staatsschuld, Privatsektorkredit, Zahlungsbilanz, Handelsbilanz usw. je Land eine „Anzeigetafel zur Wettbewerbsfähigkeit“ zu erstellen.
Im Moment wird darüber debattiert, welche Indikatoren am entscheidendsten sind, um die Lage eines Lands zu bewerten, und ab welcher Schwelle eine Lage als problematisch betrachtet werden soll. Auf jeden Fall ist es die Absicht, dass mehr Aufsicht darüber geführt wird, wie Länder ihre Schulden abbauen. Länder mit einer Staatsschuld über 60 Prozent werden besonders unter die Lupe genommen werden.
Korrektur
Es entsteht als erstes die Frage, welche Sanktionen auferlegt werden sollen, wenn ein Land seinen Haushalt entgleisen lässt bzw. seine Schulden nicht schnell genug abbaut. Eine der Ideen ist, in dem Fall die Regionalsubventionen, die es von der Union erhält, zu verringern. Das Problem ist, dass auf diese Weise nur Länder, die hohe Subventionen empfangen, bestraft werden können und das sind eben die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten der Union. Namentlich Polen widersetzt sich diesem Plan. Wenn auch Agrarsubventionen beschnitten würden, könnten selbstverständlich mehr Länder, darunter auch Frankreich und Deutschland, bestraft werden. Die deutsche Bundesregierung befürwortet aber strengere Sanktionen. In erster Linie denkt Deutschland an die Suspendierung des Stimmrechts jener Länder, die die Haushaltsregeln nicht einhalten. In extremen Fällen soll nach Ansicht von Deutschland sogar eine Prozedur eingeführt werden, die eine Ausweisung von Ländern aus der Eurozone ermöglicht. Für diese letztere Sanktion müsste aber der Vertrag abgeändert werden. Über die Frage, ob das auch für die Suspendierung des Stimmrechts gilt, sind sich Juristen uneinig. Nach den Problemen mit dem Lissabonner Vertrag sind jedenfalls nur wenige Mitgliedstaaten bereit, die Verträge nochmals abzuändern. In den Vorschlägen, die die Kommission am 29. September vorlegte, ist von Suspendierung des Stimmrechts keine Rede, nur von hohen Geldstrafen.
Eine andere Frage ist, ob die Sanktionen automatisch in Kraft treten (was Deutschland fordert) oder aber, ob vorher noch eine politische Entscheidung getroffen werden muss (was Frankreich will). Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass die Sanktionen zwar automatisch in Kraft treten, allerdings noch verhindert werden können, wenn eine Mehrheit der Mitgliedstaaten das fordert.
Eine letzte, mindestens ebenso wichtige Frage ist, ob für Länder innerhalb und auβerhalb der Eurozone die gleichen Regeln gelten. Die Briten sind auf jeden Fall nicht dazu geneigt, in gleicher Weise wie die Euro-Länder behandelt zu werden. Auf der nächsten Tagung des Europäischen Rats, am 28. - 29. Oktober, wird von den Staatschefs erwartet, dass sie sich endlich über die Sanktionen entscheiden, die Haushaltssünder erwarten.
Fazit
Die europäischen Wirtschaften sind dermaβen verflochten, dass eine Schuldenkrise in Griechenland, eine Bankenkrise in Belgien oder eine schwächelnde Wirtschaft in Irland unvermeidlich für alle anderen Mitgliedstaaten Folgen nach sich zieht. Eine gemeinsame Inangriffnahme der Wirtschaftsprobleme steht heute mehr denn je oben auf der europäischen Tagesordnung.
Der Euro hat den Sturm zumindest vorläufig überstanden und alles wird getan, dass Estland am 1. Januar 2011 in die Währungsunion eintreten kann. In mehreren Mitgliedstaaten zieht zudem die Wirtschaft augenscheinlich wieder an. Es gibt aber auch noch Länder mit Schwierigkeiten. Die Krise hat übrigens eine drastische Zunahme der Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungleichheit verursacht. Diese Folgen sind sicherlich noch nicht bewältigt.
Die Belgier führen den Vorsitz also in einer Zeit groβer Unsicherheit. Die Herausforderungen verbunden mit der „Europa 2020“-Strategie sind erheblich. Der Platz der Armutsbekämpfung in dieser Strategie ist noch nicht wirklich deutlich. In Bezug auf die finanzielle Regulierung gibt es allerhand Vorschläge und war der Vorsitz mit dem Kompromiss über die europäischen Aufsichtsbehörden schon erfolgreich. Es stellt sich immer noch die Frage, ob diese Aufsichtsbehörden stark genug sind, um zu verhindern, dass finanzielle Spieler in Zukunft noch unverantwortliche Risiken nehmen werden.
Die Debatte über eine europäische Wirtschaftsregierung beherrscht die zweite Hälfte der belgischen Ratspräsidentschaft. Es besteht offenbar Konsens, dass die Haushaltsdisziplin strenger werden muss, nicht aber über die Natur und den Automatismus der Sanktionen. Zudem wird die „Anzeigetafel“ über die Lage in den einzelnen Ländern, die die Kommission schaffen will, in Frage gestellt. Wenn es die Absicht ist, Länder nur zu belohnen, wenn sie ihre Arbeitskosten senken, wird das soziale Proteste auslösen. Die Massenproteste in den Straβen Brüssels am 29. September waren kein Zufall.
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Hendrik Vos (*Mechelen, 1972) studierte Politische Wissenschaften an der Universität Gent, wo er 1999 Professor an der Abteilung für Politische Wissenschaften wurde. Zurzeit ist er dort auch Direktor des Zentrums für EU-Studien. Seine Forschungsarbeiten spezialisieren sich auf Entscheidungsfindung und aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Union. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen in renommierten Fachzeitschriften sowie Teilnehmer an vielen internationalen Konferenzen. Hendrik Vos ist als Kommentator in EU-Angelegenheiten bei Zeitungen, Radio und Fernsehen sehr gefragt.
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EU-Ratspräsidentschaft Belgien 2010
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